an alle orte, die hinter uns liegen
In an alle orte, die hinter uns liegen geht Sinthujan Varatharajah der Frage nach, ob der Kolonialismus jemals zu einem Ende kam. Die schnelle Antwort: Nein. Scharfsinnig erkundet der*die Autor*in einerseits die eigene Familiengeschichte, die mit einer prägenden Fluchterfahrung verbunden ist und andererseits die Kolonialgeschichte und die mit ihr verbundenen eurozentristischen Wahrnehmungen und Denkweisen, welche aufgedeckt, ins Wanken gebracht und neugedacht werden, um den Leser*innen anschaulich aufzuzeigen, dass die Spuren des Kolonialismus bis in die Gegenwart reichen.
Schon auf den ersten Seiten zeigt sich eine Besonderheit des Buches: Es erscheint nicht wirklich wie ein reines Sachbuch, auch nicht wie ein Roman, manchmal jedoch wie ein Tagebuch, obschon es dies auch nicht sein möchte. Dies hängt unter anderem mit dem Anfang (und dem Ende) zusammen: Im Prolog beschriebt Varatharajah in einer poetischen, pointierten Sprache seine*ihre Gedanken während einer U-Bahn-Fahrt in Berlin. Es kommt zu einer Gedankenkaskade über das eigene Sein der*des Autors*in, die wie folgt beginnt: "Wenn ich denke, dann bewege ich. Wenn ich denke, dann erinnere ich. Und gleichzeitig vergesse ich. Ich denke, um zu bewegen, um zu erinnern, um zu vergessen. Ich denke, um mich zu bewegen, weg von diesem Ort, von diesem Leben." Die Erzählstimme reflektiert im Prolog über unzählige Themen und verwebt diese mit autobiographischen Erfahrungen und der Weltgeschichte: Hieraus entsteht eine Schreibpraxis, die sich durch das ganze Werk zieht. Es ist die Rede von kolonialer Gewalt, von der westlichen Wahrnehmung der Welt, vom Krieg gegen Tiere oder von Tempelglocken, die von ihm*ihr gehört und zu einer Metapher für die Verbrechen der Europäer*innen werden: "Ich denke an das Echo dieser Glocken, das bis in unsere Gegenwart nachhallt. / Sie läuten noch immer."
Dieses Echo, dieses Läuten der Vergangenheit bis in die Gegenwart, hört Varatharajah unzählige Male in feinsinnigen Beobachtungen. Gleich zu Beginn, im Kapitel "zur kamera", zeigt der*die Autor*in auf, wie die Kamera als vermeintlich harmlose Apparatur ihren Teil zur gewaltsamen Unterdrückung in den Kolonien beitrug. Dabei gelingt es Varatharajah mithilfe der Theorien unzähliger Vordenker*innen aufzuzeigen, wie durch die Fotokamera koloniale Gewalt ermöglicht, durchgesetzt und legitimiert wurde: "Auch wenn die Lebewesen, ob Menschen oder Tiere, beim Ablichten keinen offensichtlichen Schaden davontrugen, so wurde ihnen dennoch mit und in diesem Akt etwas unwiderruflich genommen. Auch wenn es nicht unbedingt ihr Leben war, so wurde ihr Anrecht auf ihr eigenes Abbild und damit ein Teil ihrer selbst genommen. Sie waren nach dem Ablichten gewissermaßen nicht mehr dieselben Menschen, die sie vor dem Auslösen der Kamera waren." Den Theorien Varatharajahs zufolge werden die Abgelichteten in diesem Kontext zu Bildern, die um die Welt reisen und sich in den Köpfen der Menschen festsetzen, unter anderem in Form von Stereotypen. Die Gewalt der Bilder sei anders als die Gewalt von Kanonen, obschon sie beide einen Schaden hinterlassen: Eine Waffe zerfleischt den Körper, die Kamera hingegen frisst sich in die Seele, und "[hinterlässt] leere Hüllen, die ihrer Wesen beraubt wurden."
Nebst der Kritik an der Kolonialfotografie und dem damit verbunden eurozentristischen Blick erzählt der*die Autor*in eine Familiengeschichte, die mit dem Vater beginnt, der in den Achtzigerjahren aus Sri Lanka nach Deutschland flüchtet, nachdem anti-tamilische Ressentiments im Inselstaat entfacht werden und die singhalesische Regierung mit Gewalt gegen Tamil*innen vorgeht. Mit dabei hat dieser eine japanische Kamera, mit welcher er sein neues Leben mit seiner Frau und den gemeinsamen Kindern dokumentiert. Dies ist ein entscheidender Moment, denn nun wird die Macht des Visuellen umgedreht. Varatharajah schreibt hierzu über den eigenen Vater: "Mit der Kamera konnte er, der aus der Peripherie der Inselgeografie stammte, er, der vom Rande der Gesellschaft kam, sich selbst zentrieren und eine neue Geschichte schreiben. Für ihn und die Menschen in seinem unmittelbaren sozialen Umfeld fing damit eine neue Zeit an. Eine Zeit, in der ihre Erinnerungen nicht nur in Wörtern, Gedanken, Gefühlen und Prägungen am Körper weiterlebten, sondern auch als materielle Abbilder." Zentral für die Ausführungen Varatharajahs ist weiterhin ein Bild, das der Vater von der Mutter schoss, worauf sie von hinten vor einem Elefantengehege zu sehen ist. Hiervon ausgehend schreibt Varatharajah eine Kolonialgeschichte, die aufzeigt, wie die heutige europäische Gesellschaft mit ihrer eigenen gewaltsamen Vergangenheit verbunden ist. Es ist beispielsweise die Rede von Zoos, von innovativen Erfindungen oder von geografischen Namensgebungen. Varatharajah gelingt es, das Erzählte zu dekonstruieren und zu sezieren, um schliesslich eurozentristische Perspektiven aufzuspüren und sie den Leser*innen aufzuzeigen.
Das Buch endet mit einem Epilog, der im selben Stil wie der Prolog daherkommt. Die Gedankenkaskade geht weiter, und der*die Autor*in erkennt, dass das Denken, das Erinnern und das Vergessen wohl nie ein Ende finden werden. "Ich sehe nur meine eigenen Spuren", erkennt Varatharajah abschliessend. Es ist ein Abschluss, der die Endlosigkeit der Thematik einfängt, und den Leser*innen abermals ins Bewusstsein ruft, dass die Beobachtung von (Kolonial-)Geschichte immer einer Spurensuche gleicht, die glücklicherweise in Büchern wie an alle orte, die hinter uns liegen eingefangen und thematisiert wird.
an alle orte, die hinter uns liegen ist ein starkes Buch, das mit einer gehaltvollen Kraft die Leser*innenschaft dazu zu bewegen vermag, die eigene Perspektive auf die Welt zu hinterfragen, seien es die grossen, geschichtlichen Zusammenhänge oder die Erzählungen von einfachen Dingen wie Alltagsgegenständen. Varatharajah lädt die Leser*innen zudem ohne Zwang und ohne dogmatisches Denken ein, seinem*ihrem Blick zu folgen. Wer das Buch nach dem Fertiglesen beiseite legt, kann erkennen, wie sich die eigene Sicht nach der Lektüre wandelt, wie sich Perspektiven verschieben, und die eigenen Spuren ersichtlich werden.
Von Jonas Rippstein