System und Irrtum
Vor einem Jahr gegründet, hat der Geparden Verlag im Frühjahr 2023 zum Sprung auf den Buchmarkt angesetzt. Er konzentriert sich auf Romane, gesellschaftspolitische Essays und Kinder- und Jugendbücher. Er will, so ist es auf der Homepage zu lesen, vom Geparden die Verbindung von Eleganz, Wildheit und Schnelligkeit übernehmen. Im Herbstprogramm 2023 ist Frank Urbaniok mit einem Essay vertreten. Essays wollen keine Wahrheiten verkünden, sondern zum Denken anregen. Der forensische Psychiater Urbaniok will im Buch «System und Irrtum» die Wissenschaft stärken, indem er wissenschaftliche Denkfehler unter die Lupe nimmt. Er erörtert sie in seinem eigenen Fach, wenn er gängige Fehler der Rückfallprognose bei Straftätern darlegt. Er weitet seine Kritik aus, zeigt, dass wissenschaftliche Erkenntnisse nicht für die Ewigkeit gemacht sind, sondern veralten können. Die Grenzen gängiger Kriterien der Wissenschaftlichkeit zeigt er überzeugend am Beispiel der Randomisiert-Kontrollierten Studien in der Medizin, die als Goldstandard für die Leitlinien gelten und die doch in vielen Fällen unzureichend, ja sogar falsch sind. Er plädiert mit gutem Grund dafür, dass das wissenschaftliche Denken sich den zu untersuchenden Phänomenen anpassen muss, nicht aber umgekehrt. Er warnt vor einer Überschätzung der KI, die nicht anders kann als mit Korrelationen zu arbeiten und vom eingegebenen Datensatz abhängt. Statistische Auswertungen sind, so betont er, immer reduktiv, diese Reduktionen müssen gesehen und ins Verhältnis zu den rechnerischen Ergebnissen gesetzt werden. Menschen sind in ihrem Denken auch bequem, sie gehen vorgespurte, bekannte Wege, nutzen nur das leicht zugängliche Material und schauen sich im Umfeld der Phänomene unter Umständen nicht weiter um. Sie stecken die Phänomene rasch in Schubladen, übersehen dabei leicht den Einzelfall, der sich der Verallgemeinerung verweigert und gerade deshalb bedeutsam für die Erkenntnis und die richtigen Schlussfolgerungen ist. Urbaniok zeigt zudem auf, wie ökonomische Interessen die Forschung zu beeinflussen suchen und damit Ergebnisse verzerren und verbiegen. Er hält diesen Denkfehlern seine sogenannte pragmatisch-phänomenologische Methode entgegen, die Kriterien eines wissenschaftlichen Denkens enthält. Zu ihnen gehören der Erklärungswert von Theorien und Ergebnissen, ihre Plausibilität und Widerspruchsfreiheit, die Vollständigkeit der Phänomenerfassung, der praktische Nutzen und die Prognostizierbarkeit.
In einer munteren, lässigen, für viele gut lesbaren Sprache geschrieben, hat das Buch seine Stärken darin, dass es zum Nachdenken auffordert, zum Hinterfragen jeder Wissenschaftsgläubigkeit, dass es sich aber zugleich wissenschaftlicher Methodik verpflichtet fühlt, und gerade aus diesem Pflichtgefühl heraus ihre Sackgassen und Fehler herausarbeitet. Schwächer wird «System und Irrtum» dann, wenn es selbst Prinzipien aufstellt, zum Beispiel dort, wo es eine an Darwin und Nietzsche angelehnte Evolutionstheorie verfolgt. Da also, wo es dem Irrtum auf der Spur ist, ist es stark, aber weniger, wenn es selbst an einem System arbeitet. Das muss ein Essay aber auch nicht leisten.
Rezension von Joachim Küchenhoff