Deutsch, eine Liebeserklärung. Die zehn grossen Vorzüge unserer erstaunlichen Sprache
Roland Kaehlbrandt (*1953 in Celle) lehrt Sprachwissenschaft mit dem Schwerpunkt Sprache und Gesellschaft an der Alanus-Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter bei Bonn.
Wie bitte?! Welche Vorzüge denn? Wer wie ich mit französischer Muttersprache aufgewachsen ist und für das Gymnasium Deutsch lernen musste, staunt nicht schlecht: erstens die drei grammatikalischen Geschlechter, zweitens das Deklinieren der Nomina und Adjektive, das fast so schwer ist wie im Lateinischen, drittens der Satzbau (Zweitstellung des Verbs beim Haupt- und Endstellung beim Nebensatz), viertens die Grossschreibung der Substantive usw.
Das ist doch schwer, nicht wahr? Kaehlbrandt erläutert den Sachverhalt Punkt für Punkt und belehrt die Leserin eines Besseren. Dem Allgemeinplatz, Deutsch sei schwer, stellt der Autor folgende Gedanken gegenüber: Die Leichtigkeit beim Erlernen sollte überhaupt kein Kriterium bei der Auswahl einer Sprache sein. Jede Sprache hat ihre eigenen Schwierigkeiten. Kaehlbrandt führt aus, welche Merkmale Deutsch reizvoll machen, und dass gewisse Eigenschaften – etwa die Bildung von Nominalkomposita – das Schaffen von Begriffen sehr erleichtern. Man probiere nur, Ausdrücke wie „Einfüllstutzen“, „Waldspaziergang“ oder „Wehmut“ ins Französische oder Englische zu übersetzen – geht ganz einfach, nicht wahr?
Besonders gefürchtet von Deutsch-Lernenden ist der Satzbau wegen der schon erwähnten besonderen Stellung des Verbs: „Gestern gab er ihr das Buch“ und „Ich wünsche, dass du ihr das Buch gibst“. Dieser Satzbau erlaubt aber eine grosse Gelenkigkeit und viele Nuancen, sowohl mündlich als auch schriftlich. Der Satz „Ich habe sie am Bahnhof gesehen“ kann je nach Betonung etwas anderes bedeuten. “Ich habe sie am Bahnhof gesehen „ist nicht gleich „Ich habe sie am Bahnhof gesehen“. Im Französischen muss man den Sachverhalt umständlich mit „C’est moi qui ….“ oder „C’est à la gare que …“ übersetzen. In der Schrift kann man durch Voranstellung des betonten Satzteils differenzieren: „Dem Chef glaubt dein Bruder“; ins Englische übersetzt „The boss believes your brother“ ist eine ganz andere Aussage.
Ein weiteres Kapitel ist Deutsch als Literatursprache gewidmet. Der Autor beschreibt an Beispielen die verschiedenen Stilebenen (vulgär, einfach, mittel, gehoben), derer sich die Schriftstellerinnen bedienen können: „Weil diese sogenannten Funktionsstile eine Auswahl oder, anders gesagt, eine bewusste Einschränkung der Ausdrucksfülle der Sprache vornehmen, kann man umgekehrt die Sprache der Literatur als den Ausgangspunkt aller Sprachstile und nicht etwa als die Abweichung von einem normalen Stil bezeichnen.“ Oder, Zitat des Linguisten Peter Eisenberg: „Ohne die Standardsprache geht das nicht. Sie ist das Fundament für die Literatur.“ Als Beispiel für stilistisches Raffinement hebt Kaehlbrandt die Streitgespräche zwischen dem Humanisten Settembrini und dem revolutionär-verschwörerischen Naphta in Thomas Manns Zauberberg hervor. Zitiert werden weiter besonders gelungene Stellen aus Romanen von Stefan Zweig, Ulla Hahn und Robert Schneider, ferner Beispiele für unangemessenen Stil, unkorrekte Aussagen, hohle Phrasen (in der Politik). Auch falsch verwendete Konjunktive oder andere Fehler geraten ins Visier.
Thomas Mann (scheint ein Liebling des Autors zu sein) kommt auch im früheren Kapitel über Satzbau vor, und zwar mit dem Anfang des Romans Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull:
„Indem ich die Feder ergreife, um in völliger Musse und Zurückgezogenheit – gesund übrigens, wenn auch müde, sehr müde (sodass ich wohl nur in kleinen Etappen und unter häufigem Ausruhen werde vorwärtsschreiben können), indem ich mich also anschicke, meine Geständnisse in der sauberen und gefälligen Handschrift, die mir eigen ist, dem geduldigen Papier anzuvertrauen, beschleicht mich das flüchtige Bedenken, ob ich diesem geistigen Unternehmen nach Vorbildung und Schule denn auch gewachsen ist.“ Der Autor stellt den Reichtum an Nuancen in den Bezügen der Satzteile fest und bewundert die exquisite Koketterie, die darin besteht, unter Verwendung eines hochkomplexen Satzbaus die eigene schriftstellerische Unzulänglichkeit zu suggerieren.
Ausserdem schreibt Kaehlbrandt u.a. über „Kurzdeutsch“, „Kiezdeutsch“, die Kommaregeln und die gendergerechte Sprache. Die Notwendigkeit der letzteren bestreitet der Autor nicht; er zeigt jedoch, wie bei Nomina, deren weibliche Variante einen Umlaut bildet (der Franzose, die Französin), eine grammatikalisch absurde Form entsteht (die Französ*innen).
Das 10. und letzte Kapitel „Aus der Mitte der Gesellschaft“ ist einer Besonderheit des Deutschen gewidmet: Die Sprache wurde nicht von oben diktiert wie etwa Französisch durch die 1635 gegründete Académie, sondern musste sich gegen zwei Oberschichtensprachen durchsetzen, das Lateinische der Kirche und das Französische der Höfe. Luther hat durch die Bibelübersetzung entscheidend dazu beigetragen, Deutsch zu verbreiten. Später kam die Arbeit der Brüder Jakob und Wilhelm Grimm dazu. In beiden Fällen waren es Privatgelehrte ohne weltliche Macht, die die Sprache sozusagen von „unten“ geprägt haben.
Das Buch ist ein Füllhorn an Information für alle, die ein Faible für Linguistik haben und denen sprachlicher Ausdruck und Literatur wichtig sind. Es werden Menschen aus verschiedenen Sprachgebieten zitiert, die nach anfänglichen Schwierigkeiten gelernt haben, die deutsche Sprache zu lieben. Man staunt und entdeckt ungeahnte Schönheiten dieser Sprache. Nach der Lektüre des Buches bekommt man Lust, sich Klassiker, zum Beispiel den mehrfach zitierten Thomas Mann, erneut zu Gemüte zu führen. Wie auch immer: Mit Kaehlbrandt geht man mit offenen Sinnen auf eine genussreiche Entdeckungsreise durch die Sprache.
- Colette Müller-Siemens
Roland Kaehlbrandt: Deutsch, eine Liebeserklärung. Die zehn grossen Vorzüge unserer erstaunlichen Sprache.
München: Piper Verlag, 2022. 255 Seiten.