Ode an die neue Reihe «rororo Entdeckungen»
Eine Rezension sowie Einladung zum Entdecken von Anaïs Steiner
Der Bücher-Frühling und -Herbst sind mit Blick auf literarische Werke aufregende Jahreszeiten und meine Vorfreude auf ungewöhnliche, frische, berührende und tiefe Geschichten und Sachbücher ist gross. Gleichzeitig ist die Flut der Neuerscheinungen überwältigend und die Vorfreude wird oft von einem Gefühl der Überforderung und des Verpassens begleitet. Mir stellen sich deswegen folgende Fragen:
Wie liest Du, liebe*r Leser*in, und an was oder wem orientierst Du Dich bei der Auswahl Deiner Lektüre?
Was für einen Lese-Rhythmus hast Du?
Liest Du in die Vergangenheit hinein oder orientierst Du Dich an Neuerscheinungen?
Musst/Willst Du im Gespräch bleiben, vielleicht sogar darüber schreiben und berichten können, kuratierst Du ein Literatur-Festival oder ist es Dir ein Bedürfnis, in der literarischen Welt à jour zu bleiben?
Hält Dich ein Lesekreis auf Trab und dirigiert dieser Dir die zu erlesenden Bücher?
Ein interessanter Weg und mein liebstes Rezept, um neue Bücher von Autor*innen zu entdecken, ist das Zuhören. Freund*innen zuhören, die ein feines Gespür dafür haben, was ich gerne lese und die so von einem Buch erzählen, dass mich die Leselust packt. Diese schöne Sehnsucht, sich einen Text erschliessen zu wollen. Persönliche Empfehlungen erschaffen eine Leselinie, die oft achronologisch funktioniert und ein munteres Mäandrieren im Jetzt und in der Vergangenheit bedeuten kann. Ebenso gerne höre ich Menschen auf Sozialen Medien zu, wie beispielsweise auf der Plattform Instagram, die sich dem Entdecken von Werken von Autorinnen und unabhängigen, kreativen, kleinen und wagemutigen Verlagen verschrieben haben. Diese Menschen kenne ich nicht persönlich, doch schätze ich ihr Wissen und ihre Erfahrung.
Eine solche Person ist Nicole Seifert, die Du womöglich kennst, wenn Du das Buch FRAUEN LITERATUR (2021) gelesen hast oder ihr auf Instagram folgst (@nachtundtag.blog). Sie ist promovierte Literaturwissenschaftlerin, gelernte Verlagsbuchhändlerin und arbeitet als Übersetzerin und Autorin.
Neben den kurzweiligen, einladenden Besprechungen, die sie auf Instagram mit der Öffentlichkeit teilt, kuratiert Nicole Seifert zusammen mit Magda Birkmann die Reihe rororo Entdeckungen bei Rohwolt, die sich vergessenen Autorinnen widmet. Autorinnen des letzten Jahrhunderts, die aus dem literarischen Kanon gefallen bzw. nie aufgenommen worden sind und dadurch schnell in Vergessenheit gerieten. Ihre Werke sind heute, wenn überhaupt, nur noch antiquarisch erhältlich. Nicole Seifert und Magda Birkmann nennen diese vergessenen Bücher und Autorinnen «die gute Nachricht», denn durch sie gibt es sehr vieles zum Wiederentdecken.
Die aufkommende Bankenkrise 1931 stresst die Angestellten und Christa Anita Brück versteht es, die nervösen Vibrationen und Ängste der einzelnen Figuren mit feinen, schnellen Strichen nachzuzeichnen. Dem Sog, der sich im Roman rasch entwickelt, kann man sich nur schwer entziehen. Als es in der Bank zu einem Mord kommt und Thea Iken als Hauptverdächtige gilt, wird die Neugier umso stärker, denn man möchte unbedingt erfahren, wie sich dieser Mord zugetragen hat. Die Sprache Brücks ist stark in der Gegenwart von Thea Ikens Realität zu verordnen: sie schreibt klar, schmissig, schwungvoll und verwebt dialektale Färbung gekonnt mit Standardsprache, die Dialoge sind trocken und pointiert humorvoll. Wark, ein Börsenmakler und Mitarbeiter Ikens mit einer beinahe prophetischen Nase für die Kurs-Entwicklung, wird von Brück folgendermassen beschrieben:
«Er besitzt ausgesprochen sadistische Neigungen, dieser Wark, eine gehörige Portion Eitelkeit und Grosstuerei. Er weidet sich an der Qual seiner Opfer. Er ist sich seiner Bedeutung sehr wohl bewusst und gibt seine Weisheiten nur pfennigweise ab. Eine Handbewegung, ein Achselzucken, ein Blick an die Decke, und er reisst die Herzen hin und her zwischen Furcht und Erleichterung, Hoffnung und Entsetzen. Er spannt sie, foltert sie, erlöst sie von ihrem Druck, um sie aufs Neue zu erschrecken, zu verstören, herablassend lächelnd halbwegs wieder zu beschwichtigen.» (S. 50-51)
Thea Iken, deren Figur immer eine gewisse Zurückhaltung und etwas Geheimnisvolles ausstrahlt, behält auch während den Untersuchungen der Staatsanwaltschaft eindrücklich Haltung, was Brück wie folgt beschreibt: «Sie stellt sich vors Fenster, und ein schwarzes Schattengeviert bringt das Gitter auf ihr Gesicht. Ihr Haar ist verwühlt, ihr Kopf dröhnt vor Schmerzen. Sie friert, sie weint, sie ist schwach, mein Gott, sie ist schwach. Sie hat sechs Monate durchgehalten mit beispielloser Energie, jetzt, einen Tag zu früh, bricht sie zusammen. Morgen darf sie sich fallen lassen, morgen, nicht heute. Aber sie kann es nicht hindern, sie fühlt sich stürzen ins Bodenlose.» (S. 192)
Die Beschreibung ihrer Untersuchungshaft ist mit Blick auf Autorinnen wie beispielsweise Emmy Hennings, Margarethe Böhne oder Else Jerusalem, die sich im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts mit den Themen Gefängnis (und Sexarbeit) auseinandergesetzt haben, aufschlussreich und relevant. Ähnlich wie bei Hennings, deren Protagonistin im Roman «Gefängnis» (1919) über viele Seiten hin einen inneren Monolog führt und ihre Situation sowie gesamte Existenz in Frage stellt, sind Reflexion und grosse Verzweiflung auch bei Thea Iken zu beobachten.
Das Nachwort von Magda Birkmann bietet informativen Kontext zum Roman und seiner Autorin. Birkmann weist auf die autobiographischen Erfahrungen von Christa Jaab hin, die unter dem Pseudonym Christa Anita Brück mehrere Romane veröffentlichte und den Fokus auf die prekäre Lebenssituationen und Arbeitsbedingungen weiblicher Angestellten legte. Kritisch beleuchtet Birkmann Brücks Schrifstellerinnenkarriere während des Nationalsozialismus wie auch danach.
Weil das Geld nirgends hinreicht, stellt die Mutter heimlich einen Antrag bei der Fürsorge und gesteht dies anschliessend ihrem Mann:
«Daddy sprang überraschend schnell auf die Füsse. Die Muskeln an seinem Hals zogen sich zusammen, und er klappte den Mund auf, aber da kam nichts raus. Er sah aus wie erwürgt.
Mutter jammerte, als würde es ihr wehtun, ihn so zu sehen. ‘Dein Stolz wird diese Kinder nicht satt machen’, sagte sie leise.» (S. 104-105)
Im Vorwort schreibt James Baldwin voller Lob über Louise Meriwethers Roman und ist sich nicht sicher, ob das Leben in Harlem schon einmal aus der Perspektive eines schwarzen Mädchens beschrieben wurde. Baldwin schreibt: «Das Herzstück dieses Buches, das ihm seine eigentliche Wucht verleiht, bildet die immer stärker werdende Einsicht eines Kindes, dass es zu den Opfern einer kollektiven Vergewaltigung zählt, denn Geschichte wird, und das gilt ganz besonders auf dem schwarz-weissen Kampfplatz, nicht in der Vergangenheit geschrieben, sondern in der Gegenwart.» (S. 9-10)
Die Protagonistin Francie nimmt die Lesenden ohne viel Brimborium in ihr enges Zuhause mit: zusammen mit ihr stürzt man in Eile die Feuertreppe hoch, rennt durch das Prostituiertenviertel auf dem Weg zur Schule, versucht Gangs zu umgehen, schleicht sich ins Kino und erfährt immer wieder sexuelle Übergriffe, die ganz nebenbei geschehen. Francie scheint ein wenig naiv zu sein und oft ist sie von grosser Angst begleitet, dass ihr Daddy nicht mehr zurückkehrt oder einem ihrer Brüder etwas zustösst, doch gleichzeitig ist diese Naivität noch ihr grösster Schutz, bevor sie zur Frau wird. Als sie das erste Mal ihre Periode bekommt, schreit sie nach ihrer Mutter, die ihr ein abgerissenes Stück Laken und zwei Sicherheitsnadeln bringt. Sie befestigt ihr die Einlage am Unterhemd und folgender Dialog entfaltet sich:
«’Francie, das heisst, du wirst erwachsen.’
‘Ja, Mutter.’ Ich guckte sie an und wartete.
Unsere Blicke trafen sich. ‘Das heisst …’ Sie zögerte.
Dann sah sie weg und sagte mit zackiger Stimme: ‘Das heisst, lass keine Jungs Blödsinn mit dir machen.’
‘Ja, Mutter.’
[…]
Dann war sie weg, und ich verstand nicht mehr über meine Periode als vorher.» (S. 108-9)
Meriwethers Sprache ist wirkungsvoll und ihre leise, nachdrückliche Art, Francies Alltag zu erzählen, führt dazu, dass man sie über Jahre lesend begleiten möchte. Ein sehr eindrücklicher Roman und wunderbar stimmig übersetzt von Andrea O’Brien. Birkmann erzählt im Nachwort mehr zu Louise Meriwether und ihrem politischen Schreiben und Leben. Eine wichtige Autorin, deren Werk wir uns annähern sollten und die sich selbst als «Autorin, passionierte Aktivistin und Peacenik» (S. 300) bezeichnet.
Rororo Entdeckungen bedeutet achronologisches Lesen, bedeutet, neue alte Literatur von Autorinnen zu entdecken. Im Mai 2024 dürfen wir uns auf drei weitere, neue alte Romane freuen, die Magda Birkmann und Nicole Seifert sorgfältig kuratiert und mit klugen Nachwörtern versehen haben:
«Familienglück» von Laurie Colwin, übersetzt von Sabine Längsfeld, das ein funkelndes Lesevergnügen rund um Familie, Liebe und Freiheit verspricht.
«Tagebuch einer Mutter» von Liesbet Dill, ein Roman über Mutterschaft und über Lebensentwürfe von Frauen.
«Zauberhafte Aussichten» von Stella Benson, übersetzt von Marie Isabel Matthews-Schlinzig, ein mit Ironie und Scharfblick tief beeindruckendes Werk der literarischen Moderne, in dem eine junge Frau während des Ersten Weltkriegs unter zauberhaften und mysteriösen Umständen zu ihrer eigenen Identität findet.
Passend dazu möchte ich euch das neuste Buch von Nicole Seifert empfehlen: «Einige Herren sagten etwas dazu». Die Autorinnen der Gruppe 47, erschienen im Februar 2024 im Verlag Kiepenheuer & Witsch.
Es handelt sich um ein wunderbar recherchiertes Sachbuch, das beim Lesen viel Wut und Empörung und Staunen auslöst und Autorinnen vorstellt, die an einer oder mehreren Tagungen der Gruppe 47 teilgenommen haben und von denen wir heute unfassbar wenig bis nichts wissen. Unglaublich informativ und lesenswert!
Basel, Februar 2024
Anaïs Steiner