Mädchen & Institutionen

Was bedeutet es, in einem totalitären Staat zu leben – und als kleines Rächen im Getriebe für einen solchen zu arbeiten? Dieser Frage widmet sich die erste der beiden Erzählungen in Mädchen & Institutionen, dem literarischen Debüt der 1993 geborenen russischen Autorin Darja Serenko, die im Februar 2022 den Feministischen Antikriegswiderstand mitbegründete.

In der Art eines surreal-grotesken Büroromans, auch «magischer Institutionenrealismus» (72) genannt, erzählt Serenko von einem Pulk namen- und gesichtslos bleibender Mädchen, die zuerst in einer Bezirksbücherei und später in einer staatlichen Galerie arbeiten, wobei die Arbeit selbst an beiden Orten relativ austauschbar bleibt, Hauptsache, sie wird fleissig, aber ja nicht zu eigenständig und ganz im Dienst der herrschenden Ordnung erledigt. Dass Anpassung und notfalls auch Denunziation dabei wichtiger sind als Solidarität, zeigt auch der Umgang der Mädchen miteinander: Während weibliche Kollektive in feministischen Kontexten meist in ihrer Solidarität gefeiert werden, ist das weibliche Kollektiv in dieser Erzählung eher beunruhigend. So haben die Mädchen diverse Gruppenchats, in denen jeweils eines der anderen Mädchen ausgeschlossen wird – in der Absicht, dadurch unbescholten über diese ablästern zu können.

Die fehlende Solidarität zwischen den Mädchen ist aber nur ein Symptom der sehr viel grösseren Misere eines ganzen politischen Systems, das auf Indoktrination und Abschreckung beruht. Dessen Omnipräsenz wird in vielen kleinen Anekdoten beschworen – und fast im selben Augenblick auch aufs Korn genommen. So wird die kürzlich installierte Überwachungskamera von den Mädchen wie eine weitere Kollegin behandelt, «in deren Gegenwart man gewisse Dinge besser nicht sagte» (18). Eines Tages wird den Mädchen zudem ein Porträt von Putin geschickt, mit dem Auftrag, Putins Porträt zu fotokopieren und in jeder Büroräumlichkeit mit Publikumsverkehr aufzuhängen. Am selben Tag erhalten alle Mädchen die dringende Aufforderung, ihre Social-Media-Profile darauf hin zu prüfen, dass sie «keine Nacktaufnahmen, keine Aufnahmen in Unterwäsche, keine Aufnahmen mit tiefausgeschnittenen Kleidern und keine, auf denen die Mitarbeiterin Alkohol trinkt» (30) enthalten. 

Allerdings steckt in diesem Text nicht nur unverhohlene Regimekritik voll bissigem Witz, sondern auch immer wieder Kritik an genereller Prekarität im Arbeitsleben. In wenigen Sätzen schafft es Serenko, die Perspektiven vieler junger Menschen in einer spätmodernen Leistungsgesellschaft einzufangen: «[…] sie würden bis zum Schlafengehen genau drei Stunden haben, um sich das Essen für den nächsten Tag zu kochen, die Ausgaben für die zweite Monatshälfte abzurechen, zu einem Date zu gehen, die Schulaufgaben durchzusehen, ein Glas Wein zu trinken, mit der Vermieterin zu streiten, eine Runde mit dem Hund zu drehen, zu masturbieren und mit den Mädchen am Telefon zu quatschen.» (15)

Zugegeben, so sieht unter kapitalistischen Bedingungen der Alltag vieler Menschen aus, nicht nur in Russland. Aber die Mädchen leben zusätzlich zu diesem tristen Alltag auch noch in einer Diktatur, die Krieg gegen ein Nachbarland führt, Homosexualität und ethnische Minderheiten verteufelt und jeden Protest im Keim zu ersticken versucht – was seine Spuren auch in der harmlosesten Abteilung einer jeden staatlichen Institution hinterlässt: «Einmal haben die Mädchen mich verraten. Ich mache ihnen keinen Vorwurf: manchmal laufen die Dinge in Institutionen so, dass man nicht anders kann. Wenn es also sein muss, soll wenigstens nur eine verraten werden.» (21)

Während die Erzählerin zu Beginn des Textes noch in lakonisch-gleichmütigem Ton berichtet, wird sie mit der Zeit stets störrischer und sarkastischer. So wird etwa gefragt, ob «eine richtige Frau Gewerkschaftsmitglied sein [sollte]» (28) oder «wie Mädchen zu Fremdagenten werden» (55). Als die jährliche Pflichtveranstaltung zu Krieg und Sieg näher rückt, versiegt der Funktionsdrang der Mädchen gänzlich: «Wir sind es müde zu kämpfen und zu siegen, zu schweigen und zu schauen, wir würden uns schon lange am liebsten totstellen.» (43)

Auch Genderaspekte, die bisher eher implizit mitschwangen, werden nun immer direkter adressiert und eine visionäre Erzählinstanz – die es in der patriarchalen Ideologie des totalitären Staates gar nicht geben dürfte – prophezeit: «Pronomen verändern sich, die Oberfläche der als allgemein bezeichneten Erfahrung bekommt Risse. Jemand ist zum Beispiel kein Mädchen mehr und war vielleicht nie eins – und das bedeutet, dass alle obenstehenden Texte neu gelesen werden können». (54)

Denn das Land, aus dem hier berichtet wird, ist ein Land voller «schlafender Institutionen» (64), deren Träume mit ihnen selbst durchgehen. Und so sehen sich seine Machthaber gemäss ihrer eigenen Logik geradezu gezwungen, immer groteskere und paranoidere Massnahmen zu ergreifen und wegen einer lesbischen Schriftstellerin bzw. einiger besorgter patriotischer Bürger mal eben ein ganzes Literaturfestival abzusagen.

Doch so ausgeliefert die Mädchen dem autokratischen System gegenüber auch scheinen, ein kollektiver Streik von ihnen würde das System noch immer zum Einstürzen bringen, und es ist das, was der Text am Ende suggeriert: «Wir Mädchen […] kriegen keine Kinder mehr. Wir haben keine Kraft, euch neue Menschen zu gebären […]. Mit uns geht alles zu Ende, wir sind die letzten Mädchen.» (64)

Die anschliessende Vorbemerkung der Autorin gibt preis, wie erschreckend real die fantastisch anmutenden Anekdoten aus der Erzählung im heutigen Russland sind. So wurde Serenko, die diverse Jobs an staatliche Institutionen innehatte, tatsächlich für ein Foto von sich im BH gerügt, aufgrund der Teilnahme an Protesten aus dem Job geekelt und in einem Kulturressort anonym denunziert. Den Mut aber lässt sie sich davon nicht nehmen: «Eines Tages werden viele von uns ihre eigenen Institutionen aufbauen. Ich kann es kaum warten.» (73)

Wie nah Serenkos Literatur an ihrer eigenen Erfahrung und ihrem Aktivismus für ein anderes, demokratisches Russland liegt, belegt denn auch der zweite, längere Text, in dem die Autorin eine 15-tägige Inhaftierung schildert – sie hatte auf Instagram Nawalnys Wahlkampflogo gepostet.

Nun lebt die Künstlerin und Aktivistin im georgischen Exil, vielleicht als stolze Agentin des feindlichen Auslands, als welche sie hoffentlich noch viele ähnlich kraftvolle Texte schreibt.

Basel, August 2024
Julia Rüegger

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«Danke, Schweiz, dass du mich kaputtgemacht hast...»